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Herr Faust, Fahrer sind nicht nur im Ausland vielfältigen Gefahren ausgesetzt. An welche Situationen denken Sie spontan?
Ich veranschauliche das Thema anhand von drei Beispielen. Dazu bitte ich Sie, sich in die Lage des Fahrers zu versetzen.

Im ersten Fall geht es um sogenannte KO-Tropfen.
Stellen wir uns einen Fahrer vor, der in Südfrankreich unterwegs ist. Irgendwann wird er nachts wach. Ihm ist schlecht, er hat
fürchterliche Kopfschmerzen und kann sich an nichts mehr erinnern – quasi ein totaler Filmriss.
Er bemerkt mit Entsetzen, dass jemand in seinem Fahrerhaus war. Der Schreck sitzt tief. Sofort kontrolliert er den Auflieger und stellt fest, dass ein Großteil der Fracht gestohlen wurde. Geschockt registriert er, dass ihm in seiner Erinnerung etwa vier Stunden fehlen. Der Fahrer zittert am ganzen Körper und will die Polizei alarmieren, besitzt aber weder französische noch englische Sprachkenntnisse.

Das zweite Fallbeispiel dreht sich um dehydrierte Migranten. Die Szene spielt auf einem Autobahnparkplatz mitten in Deutschland. Nach einer Fahrtunterbrechung führt der Fahrer am frühen Morgen eine Abfahrtskontrolle durch. Beim Rundgang stellt er fest, dass Arme und Hände aus einem Spalt der Plane heraushängen, sich nicht bewegen und vermutlich Kinder leise vor sich hin jammern. Er ist Ukrainer und spricht weder Deutsch noch Englisch, obwohl er schon länger für die Spedition arbeitet. In seiner Firma ist erst zwei Stunden später wieder jemand erreichbar. Er weiß, dass die Menschen auf seinem Auflieger in Lebensgefahr sind und überlegt, was zu tun ist und wie er vielleicht einen Notruf absetzen könnte.

Das dritte Fallbeispiel führt uns zu einem Unfall am Stauende. Mitten in der Nacht ist der Fahrer auf der Autobahn unterwegs, wird kurz abgelenkt und fährt in das Stauende – in den letzten Sekunden kann er noch etwas abbremsen. Er hat Glück, ist kaum verletzt. Doch vor sich sieht er Tote und Verletzte, zwei Fahrzeuge haben gar Feuer gefangen. Er spricht nur ein paar Worte Deutsch, kein Englisch. Mit jeder Sekunde, die er zögert, einen Notruf abzusetzen, verschlimmert sich die Unfalllage dramatisch.

Was macht den besonderen Druck aus, der in solchen Fällen auf dem Fahrer lastet?
Der Fahrer befindet sich in einer absoluten Krisensituation und ist persönlich stark betroffen. Er durchlebt Ereignisse, die dem normalen gesunden Menschenverstand widersprechen. Niemand ist gegen derart schreckliche Vorfälle gefeit. Selbst besonders selbstbewusste und erfahrene Fahrer stoßen schnell an ihre Grenzen. Und trotzdem müssen sie unverzüglich Entscheidungen treffen, um andere Menschenleben oder sich selbst zu retten und wirtschaftlichen Schaden – bis hin zum Imageschaden – von ihrem Unternehmen abzuwenden.

Verantwortung klären

Ereignisse wie Un-, Über- oder Notfälle werfen nicht nur menschliche, sondern auch rechtliche Fragen auf. Die Polizei ermittelt.
Diese Ermittlungen können über den Fahrer bis in die Unternehmen hinein reichen. Es ist insofern von zentraler Bedeutung, so Sicherheitsfachmann Hans-Werner Faust, „dass die Verantwortung für das Schadensereignis und gleichermaßen das Verhalten in der Rettungskette überprüft werden“.


Bei einem derartigen Unfall, Überfall oder Notfall gilt es für den Fahrer, angemessen zu kommunizieren. Etwa gegenüber der Polizei oder Rettungskräften. Was muss er wissen, was muss er tun?
Er sollte die Notrufnummern kennen. In Deutschland sind das die 110 für die Polizei, die 112 für Rettungsdienste, die Feuerwehr sowie den Euro-Notruf. Auch müssen ihm die fünf „W“ geläufig sein: Wo, wer, was, wie und warten.
Die Beantwortung der W-Wörter beziehungsweise -Fragen findet europaweit Anwendung und beinhaltet die wichtigsten Informationen zum Auslösen einer Rettungskette.

Ein Not-, Un- oder Überfall bringt den Fahrer in eine Krisensituation.
Niemand ist gegen derartige Ereignisse gefeit. Selbst besonders selbstbewusste und erfahrene Fahrer stoßen dann schnell an ihre Grenzen.
Trotzdem müssen sie unverzüglich wichtige Entscheidungen treffen.

Hans-Werner Faust

Ein großer Stolperstein kann in dem Zusammenhang die Sprache sein. Grundsätzlich gilt beim Notruf die Sprache des Landes, in dem man sich gerade befindet. Falls man diese Sprache nicht beherrscht, kann man der Polizei oder den Notruf-Zentralen die erforderlichen Informationen auf Englisch mitteilen.

Wie kann der Fahrer sich auf eine solche Situation vorbereiten? Was lässt sich bereits im Vorfeld tun?
Jeder Lkw-Fahrer kann in einen Unfall oder Notfall geraten, aber auch Opfer von Lkw-/Ladungsdieben und anderen Kriminellen werden. Wichtig ist, dass sich Fahrer und Unternehmen dieser Problematik bewusst sind und sich stellen. Auch wenn in der Regel alles problemlos abläuft, ist die Einstellung „Es wird schon gutgehen. Bisher ist ja noch nie etwas passiert“ zu überdenken.

Kommt es zum Super-GAU, wird vom betroffenen Fahrer erwartet, dass er professionell reagiert – also richtig und schnell. Mitverantwortlich für den Fahrer und dessen Verhalten ist immer das Unternehmen.
Deshalb ist es wichtig, dass beide, Unternehmen und Fahrer, auf Notsituationen, Unfälle und Kriminalität vorbereitet sind.
Ein Fahrer sollte wissen, welches Verhalten das Unternehmen im Notfall, bei einem Unfall und anderen Krisensituationen von ihm erwartet. Notfallpläne und Checklisten können dabei helfen. Sie sollten mit dem Fahrer besprochen und in die Fahrzeugunterlagen
aufgenommen werden.Dazu gehören fremdsprachliche Hinweise und Vokabeln. Das heißt, der Fahrer sollte sich in jedem Land, in dem er für das Unternehmen auf Tour ist, in der jeweiligen Landessprache mit der Polizei und den Rettungsdiensten verständigen können – wenigstens in englischer Sprache. Sprachliche Probleme dürfen nicht zur Zuspitzung der Notsituation führen!

Welche konkreten Tipps geben Sie, damit sich der Fahrer ein sprachliches Basiswissen aneignet? Welche Handlungsmuster
sollte er kennen?

Fremdsprachliches Wissen anzueignen funktioniert nur, wenn es das Unternehmen will und den Fahrer beim Lernen unterstützt. Die zu erbringende Leistung des Unternehmens ist relativ gering, denn es geht nicht um blumige Kommunikation mit Polizei und Rettungsdiensten, sondern um strukturierte, faktenbezogene Antworten. Der Fahrer benötigt lediglich die fremdsprachlichen Fertigkeiten, um die fünf W-Fragen beantworten zu können.
Wenn ein Unternehmen Notfallsituationen und die W-Fragen durchdenkt, stellt es schnell fest, dass es sich hier nur um wenige, maximal 20 bis 30 Vokabeln, handelt. Wenn eine Personenbeschreibung dazukommt, zum Beispiel bei Ladungsdieben, sind vielleicht bis zu 50 Vokabeln notwendig.
Zentrale Worte können beispielsweise sein: Autobahn, Feuer, Raub, Tote, Verletzte, Unfall, Bekleidung, Ziffern, Farben, Bewaffnung.

Die fünf W-Fragen lauten:


Wo ist das Ereignis passiert?
Wer ruft an?
Was ist geschehen?
Wie viele Betroffene gibt es?
Warten auf Rückfragen!

Wie (und wann) lassen sich die notwendigen Worte und Begriffe üben? Wer kann dabei gegebenenfalls als Sparring-Partner dienen?
Gezielt kann das Thema in Unternehmen aufgefangen werden, die „firmeneigene“ Berufskraftfahrer-Fortbildungen im Kenntnisbereich 3.5 durchführen – Verhalten in Notfällen etc., gemäß Anlage 1 der BKrFQV.
Dieses Privileg haben aber nur wenige Unternehmen und Fahrer. Die einfachste Methode, Vokabeln für Notsituationen zu trainieren, ist das Lernen im Fahrerhaus – quasi als ein Selbstgespräch. Der Fahrer verbringt vermutlich die meiste Zeit seines Lebens zu Hause im Bett oder im Fahrerhaus. Zeit zum Lernen im Fahrerhaus ist also reichlich vorhanden!

Zugewinn für Unternehmen


Eine Sprache lernt man, indem man die Kenntnisse ausprobiert und anwendet. Dann wirkt die Sprache als Türöffner beim Gegenüber – etwa beim Kunden. Sie kann gar Lebensretter in Unfall- und Notsituationen sein. Deshalb gilt: Die Sprachkompetenz seiner Fahrer zahlt sich für ein Unternehmen immer aus. Sie ist ein Zugewinn – und sollte entsprechend gepflegt und gefördert werden!

Inwieweit kann Google als Übersetzungsweg hilfreich sein?
Der Google-Übersetzer ist nur hilfreich, wenn der Fahrer vom Unternehmen alleingelassen wird und sich selbst helfen muss. Mit dem Google-Übersetzer kann sich jeder eine individuelle Vokabelsammlung, bis hin zu ganzen Sätzen, zusammenstellen und lernen. Ich gebe zu bedenken: Im maximalen Stress einer Katastrophe mit dem GoogleÜbersetzer zu arbeiten und nach Vokabeln zu suchen, ist zeitaufwendig und kann die Notsituation verschlimmern!

Wie sehen Sie den Unternehmer gefordert, seinen Fahrer bereits präventiv für einen derartigen Ausnahmefall fit zu machen, ihn zu trainieren?
Vordenken ist immer besser als Nachdenken. Eine im Unternehmen funktionierende non-verbale Kommunikation, vielleicht unterstützt mit „ja, ja, ja“ oder „okay, okay, okay“ reicht in Notfallsituationen nicht aus.
Wird innerhalb eines Unternehmens Sprache als Problem erkannt, kann mit einfachen Mitteln, kleinem Budget und ohne großen Aufwand gegengesteuert werden.
Unternehmen bedeutet auch in diesem Fall: etwas zu unternehmen. Es ist für alle Betroffenen im Ernstfall extrem wichtig, dass der Notruf funktioniert und die Rettungskette schnell und zielgerichtet aktiviert werden kann. Die soziale Verantwortung eines Unternehmens gegenüber dem Fahrer und der Gesellschaft kann sich, wenn in dem Themenfeld ein Bedarf erkannt wird, in der Unternehmensphilosophie und -prozessen widerspiegeln.

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