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Sie zeigt überall da, wo es kompliziert wird, ihr größtes Potenzial: Künstliche Intelligenz. Machine Learning, künstliche neuronale Netze und mathematische Optimierung sind die spannenden Stichworte rund um das Thema, das Logistikern neue Chancen eröffnet. 

Schüler nutzen es für Hausaufgaben, Redaktionen für News­texte, Unternehmen für die Kommunikation – ChatGPT ist in aller Munde und hat das Thema Künstliche Intelligenz (KI) in die erste Reihe gespült. Aber auch in der Logistik, Deutschlands drittgrößtem Wirtschaftszweig, findet sich enormes Potenzial für den Einsatz KI-basierter Software. Und in der Realität? Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Unternehmen das exakt so sieht, die reale Umsetzung aber noch deutlich hinterherhinkt. 

Dabei sind Aufgaben wie Routenplanung oder Beladung geradezu prädestiniert für Automatisierung mittels KI: Alle einzelnen Vorgänge vom Ein- und Auslagern, Verpacken und Transport etc. sind jedes für sich ein einfaches Problem und lassen sich mathematisch gut beschreiben. Wenn aber zum Beispiel Teilladungen mit verschiedenen Ladungsträgern im Vor-, Haupt- und Nachlauf koordiniert werden müssen, entstehen hochkomplexe Optimierungsprobleme (siehe auch S. 10, Sonnleitner). Zwar gibt es seit den 1990er-Jahren zahlreiche Software-Ansätze, die aber in der Praxis nicht vollständig überzeugen konnten. Am Ende war der Mensch der Software in der Regel überlegen. 

Mit den heutigen Möglichkeiten der Bereithaltung und Verarbeitung von Daten ändert sich das: Weil KI in der Lage ist, komplexe Probleme zu verarbeiten und selbsttätig immer bessere Lösungen zu entwickeln – Stichwort Machine Learning (ML) –, wird auch die Logistikbranche immer stärker profitieren.


Eine Aufgabe, wie gemacht für KI: das Aufzeigen bisher unentdeckter Zusammenhänge

Noch ist viel Arbeit zu leisten, aber die Entwicklung verläuft exponenziell: Neuronale Netze und Machine Learning in der Logistik haben Potenzial. Foto: shutterstock/carlos castilla

NEURONALE NETZE 

Eine zentrale Anwendung Künstlicher Intelli-genz sind künstliche neuronale Netze. Die Idee lehnt sich an den Aufbau des menschlichen Gehirns mit seiner flexiblen, vielfachen Vernetzung der Nervenzellen an. Bei den künstlichen neuronalen Netzen stehen miteinander verknüpfte Algorithmen für die Nervenzellen. Eine erste Gruppe (die sogenannte Eingabeschicht) von Algorithmen übernimmt die bereitgestellten Daten und übergibt sie gewichtet (von besonders stark beachten bis besonders wenig beachten) an die sogenannte Black Box, die „verborgene Schicht“.
Das sind beliebig viele weitere Ebenen von Algorithmen, die die Daten ihrerseits gewichten und weiterreichen. Am Ende steht die Ausgabeschicht, die die verarbeiteten Informationen als Ergebnis auswirft. Ganz konkret also zum Beispiel „Gefahrgutlabel XY erkannt“ oder „Pickingverfahren Z erkannt“.

Spezialisten sehen dabei zum Beispiel die Bedarfsprognose als eines der besonders stark profitierenden Felder. Weil KI und ML hier nämlich verschiedenste Datenströme auswerten und dabei neue Sachverhalte und Abhängigkeiten entdecken können. Eine Aufgabe, mit der ein menschliches Team überfordert wäre oder für das es erhebliche Ressourcen bräuchte, die meist nicht vorhanden sind. 

Ein anschaulicheres Beispiel ist die Erkennung von Gefahrgutlabeln, die ja bei jedem Umgang mit einem gekennzeichneten Packstück eine große Rolle spielt. Ob es dabei um die Unterstützung der Mitarbeiter oder eine Vollautomatisierung geht: Voraussetzung ist die korrekte Erkennung der unterschiedlichsten Label, die auch unabhängig von der Kameraperspektive und Kameraposition zuverlässig funktioniert. Zusätzliche Herausforderung: auch neue Varianten eines Gefahrgutlabels müssen erkannt werden.

Für das Machine Learning wird eine Musterverpackung, etwa ein Karton, von allen Seiten fotografiert. Ein sogenannter Segmentierungsalgorithmus erkennt auf den Fotos die Labels, welche im Anschluss von Menschen klassifiziert (getagged) werden. Mit diesen Informationen – den Fotos der Labels plus den Tags – wird dann die KI gefüttert und erzielt in mehreren Durchgängen immer bessere Ergebnisse, bis hin zur automatischen Identifizierung selbst neuer Varianten. 

Mit solchen Methoden lässt sich zum Beispiel auch der Umgang mit Transporthilfsmitteln effizienter gestalten. Für die individuelle Erkennung einer Europalette sind dann nicht mehr Label oder Seriennummer notwendig, sondern es genügt die Holzmaserung, die als individueller „Fingerabdruck“ der Palette erkannt wird.

Ein weiteres Beispiel: Überall dort, wo Transportgut manuell gehoben, getragen oder anderweitig bewegt wird, kann KI von doppeltem Nutzen sein. Dafür werden zunächst mittels von den Mitarbeitern getragenen Sensoren (sogenannten Wearables) über längere Zeit Daten erhoben, die dann mithilfe von KI (in diesem Fall künstlicher neuronaler Netze) ausgewertet werden. Das neuronale Netz kann Muster erkennen wie zum Beispiel das Entnehmen eines Packstücks aus einem Regal des Lagers. So lässt sich nicht nur analysieren, welcher Aufwand für die einzelnen Arbeitsschritte notwendig ist und wo effizientere Möglichkeiten für Kostensenkungen sorgen. Genauso wichtig ist auch das Erkennen von potenziell gesundheitsschädlichen Bewegungen, denen nun aufgrund der neuen Erkenntnisse zum Schutz der Mitarbeiter entgegengewirkt werden kann.

MACHINE LEARNING 

Computern das Lernen beizubringen wurde schon in den 1950ern als Aufgabe gesehen. Zahlreiche Forscher haben sich daran versucht, die starren Algorithmen einer herkömmlichen Software nach dem Muster Eingabe > Berechnung > Ergebnis zu überwinden. Stattdessen vergleicht Machine Learning die Eingabe mit dem Ergebnis und berechnet anschließend, wie der Algorithmus verbessert werden kann – was dann wieder zu besseren Ergebnissen und noch besseren Algorithmen führt. Ein Lernmuster mit deutlichen Parallelen zum menschlichen Lernen. Sogar ein Sprichwort gibt es dafür: „Übung macht den Meister.“ Die Leistungsfähigkeit des Machine Learning zeigt zum Beispiel die Software AlphaGo Zero auf: Der Software wurden als Input lediglich die Go-Regeln mitgegeben – Go gilt übrigens als deutlich komplexer als Schach. Dann hat das Programm ausschließlich gegen sich selbst gespielt, jedes Spiel analysiert, seinen Algorithmus verbessert und es in nur 40 Tagen zum besten Go-Spieler der Welt gebracht.

Sehr gute Ergebnisse erzielt KI auch bei der Ladungszusammenstellung. Wie sind die verschiedenen Dimensionen des Ladeguts am platzsparendsten zu kombinieren, um das Ladevolumen des Lkw bestmöglich auszunutzen? Gleichzeitig darf natürlich auch die Ladungssicherung nicht vernachlässigt werden. KI ist hier in der Lage, gleich eine ganze Reihe von Anforderungen mit einzubeziehen und jederzeit eine optimierte Lösung vorzuschlagen. 

Und ist der Lkw auf der Straße, kann bekanntermaßen jederzeit etwas dazwischenkommen: Ein Unfall führt zur Sperrung der Autobahn, und schon wird der avisierte Liefertermin fraglich. Statt aufgrund des Zeitmangels auf die erstbeste Lösung zurückzugreifen, kann Machine Learning zum Einsatz kommen. Nach und nach wird KI lernen, aus den Möglichkeiten von Transportrouten, Zusatztransporten oder verlängerten Öffnungszeiten für die Warenannahme jederzeit kurzfristig einen optimierten Vorschlag zu erstellen.

Quelle: Fraunhofer IML, “Whitepaper. Künstliche Intelligenz in der Logistik”

Ein Feld der Abhängigkeiten: Eine durchdachte Strategie ist die Basis, auf der Datenerhebung, Analyse, Auswertung und Prognosen aufbauen. Foto: shutterstock/NicoElNino

Ersetzen wird KI auf absehbare Zeit niemanden, aber die Arbeit der Mitarbeiter deutlich unterstützen. Foto: shutterstock/Summit Art Creations

Chancen nutzen

Auch bei der KRAVAG beobachtet man das Thema KI mit hoher Aufmerksamkeit. Tim Baumeister, in der Hauptsache verantwortlich für das Thema Truck Parking, gibt einen Ausblick aufMöglichkeiten und Herausforderungen.

Angesprochen auf das Thema KI fallen Tim Baumeister, Projektleiter Truck Parking der KRAVAG, spontan zwei Sätze ein: „Ganz, ganz wichtig“, aber auch „Da muss sich noch viel tun“. Das Wichtigste sei die Digitalisierung möglichst vieler Informationen und Prozesse. „Ohne geht es nicht. Nur auf der Grundlage einer vernünftigen Datenbasis lassen sich die Vorteile von KI ausspielen“, sagt er. Besagte Vorteile sieht er zum Beispiel im Büro gerade auch kleiner oder mittlerer Unternehmen: „Wenn ein KI-gestütztes Programm zum Beispiel ein Angebot oder eine Rechnung schon mal vorbereitet und der Mensch nur noch kontrolliert, ist das eine riesige Erleichterung.“ 

Routenführung sieht er als weiteres kommendes Highlight: „Wenn ich eine Software habe, die mir automatisch zum Beispiel die perfekte Begegnungsfahrt anbietet, profitieren alle davon.“ Das würde nicht zuletzt auch für mehr Nachhaltigkeit sorgen, weil mehr Ladung pro Liter Diesel transportiert wird. Ein wichtiges Thema auch für Transporteure, von denen der Auftraggeber einen Nachhaltigkeitsnachweis verlangt. „Die Berechnung – gerade auch, wenn es um Teilladungen geht – ist so komplex, das kann eine KI einfach besser.“ 

Auch an ganz anderer Stelle sieht er großes Potenzial: „Ohne Fahrer aus Osteuropa funktioniert unser Logistik-Markt nicht, aber an der Rampe gibt es immer noch riesige Verständigungsprobleme. KI in Form einer vernünftigen Sprach-App könnte sehr viel bewegen und auf beiden Seiten zudem für ein besseres Arbeitsklima sorgen.“ Für den rollenden Verkehr erwartet er nicht nur eine intelligentere Routenplanung dank der neuen Technologie, sondern auch bessere Chancen für bereits im Test befindliche Ideen wie das Platooning.

Als Mitarbeiter der KRAVAG kennt er natürlich auch Nahziele: „Im Pkw-Bereich haben wir bei Unfällen bereits eine teilautomatisierte Schadenaufnahme. Das wünsche ich mir auch für den Lkw-Bereich!“

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