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Kurz da innehalten, wo es sonst hektisch, manchmal gefährlich und im schlimmsten Fall sogar tödlich ist: Diese Idee steht hinter den Autobahnkapellen. Insgesamt 44 davon gibt es in Deutschland. Unter ihnen ist die Kapelle am Autohof Lohfeldener Rüssel eine ganz besondere – und das nicht nur wegen der außergewöhnlichen Architektur.
Wer in Nordhessen von der Autobahn A49 am Autohof Lohfeldener Rüssel abfährt, entdeckt ihn noch vor dem lang gestreckten Bau des Autohofes mit seiner roten Fassade und noch vor der Tankstelle mit ihrer Leuchtreklame: den markanten Betonquader. Die Autobahnkapelle Kassel, so der offizielle Name, ist in einer ganz besonderen Bauweise errichtet.

Auf einer fünf mal fünf Meter großen Grundfläche erhebt sich das Betongebäude ebenfalls fünf Meter in die Höhe. Ein vollständiger Würfel, auch wenn er durch den hohen Eingang, das schmale hohe Fenster und das in die Luft ragende Kreuz höher als breit scheint. Innen wirkt er elegant und leicht und alles andere als bedrückend, ein Lichtschacht im Dach und das elegante, schmale Kreuz lenken den Blick nach oben.
365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag geöffnet
An 365 Tagen im Jahr, täglich 24 Stunden lang ist die Kirche „Licht auf dem Weg“ geöffnet. „Die Kapelle muss immer offen sein.
Wenn man sich erst irgendwo einen Schlüssel holen muss, kommt niemand mehr“, erklärt Herbert Brethauer, der das Team aus 18 Betreuerinnen und Betreuern aus den evangelischen und katholischen Kirchen in Lohfelden und Kassel koordiniert. Jede Woche hat einer von ihnen Dienst, sieht nach dem Rechten und füllt die Teelichter auf.

Auch für die Ausgetretenen
Im Oktober 2009 wurde die Kapelle in Dienst gestellt. Entworfen hat sie ein Kasseler Architekt, mitfinanziert haben der Lohfeldener Entsorgungsunternehmer Andreas Fehr sowie die evangelische und katholische Kirche. Die Kapelle gehört der SVG Hessen, seelsorgerisch liegt sie in der Verantwortung der evangelischen Kirchengemeinde Lohfelden. Doch ausdrücklich richtet sie sich an
Menschen jedweden Glaubens oder auch ohne Glauben.
„Viele treten aus den Kirchen aus, die Kapelle ist auch für die Ausgetretenen da. Es gibt Menschen, die sind traurig, weil etwa ein
Angehöriger im Krankenhaus liegt, und sie haben keine andere Kirche als diese“, erklärt Willi Stiel. Die Kapelle wird denn auch nicht
nur von Reisenden, sondern auch von lokal ansässigen Menschen besucht. Das geht sehr klar aus dem sogenannten Anliegenbuch
hervor. Einmal im Jahr ist rund um die Kapelle am meisten los:
Bei der Rüssel Truck-Show jeweils im April gibt es einen großen Trucker-Gottesdienst, der die Kapazität der Autobahnkirche übersteigt und unter freiem Himmel gefeiert wird.
Hier gibt es keine Predigten, hier predigt der Raum.
Willi Stiel
Kerzen zum Gedenken an Verstorbene
Das Anliegenbuch, in das alle Besucher ihre Wünsche, Hoffnungen und Sorgen eintragen können, ist ein wichtiger Bestandteil
der Kapelle. Außerdem gibt es hier einen Traueraltar, an dem man eine Kerze für Verstorbene und Verunglückte anzünden kann,
Karten, Kalender und das Neue Testament zum Mitnehmen sowie Sitzplätze und als beeindruckender Blickfang ein Kreuz. Angebracht ist es auf einer Säule aus brasilianischem Quarzstein. Dieser ist millimeterdünn geschliffen, 120 LED-Lämpchen leuchten hindurch und machen das Leucht-Kreuz zu einem faszinierenden Kunstwerk.
Um sicheres Ankommen bitten, Handy laden
Etwa 300 Menschen im Monat besuchen die Kapelle am Lohfeldener Rüssel. „Ein ziemlich guter Wert in Zeiten weiterhin steigender
Kirchenaustritte“, betont Willi Stiel. Auch diese Zahl lässt sich aus den Einträgen im Anliegenbuch ablesen. In der 15-jährigen Geschichte der Kapelle liegt inzwischen das zwölfte Buch aus. In den Einträgen spiegelt sich die gesamte Bandbreite der Sorgen und Nöte der Besucher. Da gibt es ganz allgemein den Wunsch von Reisenden, gesund anzukommen. Da gibt es die Bitte von Polizisten auf dem Weg zu einer Demo, dass niemand verletzt werden möge.

Und da gibt es immer wieder Geschichten von Reisenden auf dem Weg zu kranken Angehörigen, die regelmäßig hier anhalten
und ihre Wünsche aufschreiben. Einen solchen Fall nehmen übrigens auch die Macher eines Filmes auf, der zurzeit an der Kapelle
gedreht wird. All diese Menschen mit ihren unterschiedlichen Anliegen und Nöten sind den Verantwortlichen der Kapelle herzlich willkommen. Auch diejenigen mit ganz weltlichen Einträgen: Danke, dass mein Fußballverein gewonnen hat; danke, dass ich hier mein Handy laden konnte. Für sie alle ist die Autobahnkapelle am Lohfeldener Rüssel eine willkommene und auch wichtige Anlaufstelle.
AUTOBAHNKIRCHEN
- Gotteshäuser an der Autobahn sind eine deutsche Erfindung und in anderen Ländern praktisch unbekannt.
- 1958 wurde bei Adelsried an der A 8 zwischen München und Stuttgart die erste Autobahnkirche eröffnet.
- Noch heute befindet sich die Mehrzahl der insgesamt 44 Autobahnkirchen im südlichen Teil Deutschlands, etwa unterhalb einer Linie Berlin – Hannover.
- Im Bundesland Hessen gibt es neben der Kapelle am Lohfeldener Rüssel außerdem Autobahnkirchen in Medenbach (A3), Kirchheim (A7) sowie Hessisch Lichtenau und Diemelstadt (beide an der A49).